Einleitung
Nannten die Erwachsenen irgend einen Gegenstand und wandten sie sich dabei ihm zu, so nahm ich das wahr und ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn hinweisen wollten. Dies aber entnahm ich aus ihren Gebärden, der natürlichen Sprache aller Völker, der Sprache, die durch Mienen- und Augenspiel, durch die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme die Empfindungen der Seele anzeigt, wenn diese irgend etwas begehrt, oder festhält, oder zurückweist, oder flieht. So lernte ich nach und nach verstehen, welche Dinge die Wörter bezeichneten, die ich wieder und wieder, an ihren bestimmten Stellen in verschiedenen Sätzen, aussprechen hörte. Und ich brachte, als nun mein Mund sich an diese Zeichen gewöhnt hatte, durch sie meine Wünsche zum Ausdruck.
(Augustinus, Confessiones I, 8)
Dies ist das Zitat eines Zitats: Zu Beginn der Philosophischen Untersuchungen führt Ludwig Wittgenstein diese Stelle aus Augustinus’ Bekenntnissen an, in denen dieser beschreibt, wie er seiner Erinnerung nach seine Muttersprache gelernt hat (Wittgenstein führt den lateinischen Text an und gibt dann seine Übersetzung, hier ist nur letztere zitiert). Sie bilden den Ausgangspunkt für Wittgensteins berühmte Überlegungen über die Funktionsweise der menschlichen Sprache und für seine Idee des Sprachspiels. Nun weiß man nicht, wie genau sich Augustinus wirklich erinnert und ob er sich all dies, wie so viel, was seither über den Spracherwerb gesagt und geschrieben wurde, bloß zurechtgelegt hat, in der Meinung, so müsse es sein. Aber anders als so vieles, was seither über den Spracherwerb gesagt und geschrieben wurde, ist es wunderbar formuliert und enthält zwei Momente, die in der wissenschaftlichen Forschung bis heute, wenn denn nicht bestritten, so doch oft nicht gesehen und dort, wo sie denn gesehen, nicht wirklich ernstgenommen wurden:
A. Wir lernen die Sprache in der alltäglichen Kommunikation mit der sozialen Umgebung.
B. Um eine Sprache zu lernen, genügt es nicht, diese Sprache zu hören; vielmehr benötigen wir eine Fülle an begleitender Information, wie hier Gestik und Mimik der Erwachsenen.
Beides möchte man eigentlich für selbstverständlich halten. Herodot erzählt die berühmte Geschichte des Pharaos Psammetich, der wissen wollte, was die erste und eigentliche Sprache der Menschen sei, und befahl, zwei Neugeborene aufwachsen zu lassen, ohne dass jemand zu ihnen spricht; das erste Wort, das sie äußern, klang, so erzählt Herodot, wie das phrygische Wort für Brot, und so nahm man denn an, die Ursprache des Menschen sei das Phrygische. In dieser Vorstellung vom Spracherwerb spielt der Input aus der sozialen Umgebung nur insofern eine Rolle, als die eigentliche, von Geburt an vorhandene Sprache durch eine andere verdrängt werden kann: Kinder, die in einer englischsprachigen Umgebung aufwachsen, sprechen nicht die Ursprache. Diese Theorie gilt heute als obsolet. Sie ist aber in ihrer Einschätzung vom relativen Gewicht dessen, was an sprachlichem Wissen von Anfang an vorhanden ist, und dem, was der sozialen Umgebung entnommen werden muss, manchen neueren Theorien des Spracherwerbs nicht ganz fern: In der Chomsky’schen Idee der Universalgrammatik, theoretische Grundlage eines wesentlichen Teils der modernen Spracherwerbsforschung, ist „die Sprache” hauptsächlich etwas Angeborenes, insoweit gleich für alle Menschen und vom jeweiligen Input unabhängig. Das, was das Kind oder, beim Zweitspracherwerb, der erwachsene Lerner an Sprachlichem aus seiner Umgebung erfährt, wird nicht genutzt, um daraus bestimmte Regelhaftigkeiten abzuleiten und sich diese anzueignen; der Input fungiert eher als eine Art externer Auslöser für latent bereits vorhandenes Wissen. Für das Erlernen des Wortschatzes gilt dies sicher nicht. Es kann nicht angeboren sein, dass der Mond luna heißt. Für andere Bereiche der Sprache ist das Ausmaß des Angeborenen aber durchaus umstritten. Bei dieser Denkweise gilt das unter A Gesagte nicht.
Die meisten modernen Spracherwerbsforscher schreiben dem Input ein wesentlich höheres Gewicht zu: Wir kopieren die charakteristischen Eigenschaften eines bestimmten sprachlichen Systems, indem wir den Input analysieren, um so die ihm zugrundeliegenden Regularitäten abzuleiten. Der Input tritt uns in Form von Schallfolgen (oder Gesten und später geschriebenen Zeichen) entgegen, die von anderen, die das System beherrschen, zu kommunikativen Zwecken verwendet werden. Diese Schallfolgen müssen die Lernenden in kleinere Einheiten zerlegen, diese mit Bedeutungen versehen und nach den Regularitäten abklopfen, denen gemäß sie sich zu komplexeren Ausdrücken verbinden lassen. Dies – und vieles andere – ist es, was das dem Menschen angeborene Sprachvermögen leistet, keine andere Spezies kann es (einem Pferd kann man so viel Chinesisch vorspielen, wie man will, es wird es nicht lernen). Aber auch wir könnten es nicht, wenn wir nur den Schall hätten. Wenn man, in einer Abwandlung des Psammetich’schen Versuchs, jemanden in ein Zimmer einsperren und tagaus tagein mit Chinesisch beschallen und im Übrigen gut versorgen würde, so würde er es, gleich ob als Kind oder als Erwachsener, nicht lernen. Vielleicht würde er einige strukturelle Eigenschaften des Schallstroms ausfindig machen; aber er würde auch nach Jahren kein Chinesisch können. Man benötigt den Schallstrom als sinnlich fassbaren Ausdruck der zugrundeliegenden Sprache, und man benötigt all die Informationen, die man der jeweiligen Redesituation oder aber seinem bereits vorhandenen anderweitigen Wissen entnehmen kann. Augustinus hat beides radikal vereinfacht; aber im Prinzip hat er Recht, und man sollte daher von der Spracherwerbsforschung erwarten, dass sie dies in Rechnung stellt.
Das tut sie aber selten. Soweit sie überhaupt aus dem Gehäuse der Theorie tritt und sich den tatsächlichen Verlauf des Spracherwerbs anschaut, konzentriert sie sich weithin auf das, was die Kinder selbst sagen – dazu dienen ausgedehnte Corpora –, oder aber sie untersucht in experimentellen Settings, wie Kinder bestimmte Wörter oder Strukturen verstehen oder auch nicht verstehen. Das hat auch, wenn denn gut gemacht, einen hohen Aufschlusswert. Aber die eigentliche Verarbeitung des Inputs im doppelten Sinne – Schallwellen und Parallelinformation – wird selten in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Dies führt zu eigentümlichen Verzerrungen. So betrachtet man in der Spracherwerbsforschung vor allem deklarative Hauptsätze. Ein nicht unwesentlicher Teil dessen, was Kinder hören, besteht aber aus Imperativen („Tu das!“, „Tu das nicht!“). In solchen Imperativen gibt es normalerweise kein Subjekt. Ein intelligentes Kind muss daher zu dem Schluss kommen, dass das Deutsche in einem nicht unwesentlichen Teil seiner grammatischen Strukturen eine „pro drop-Sprache” ist, d.h. eine Sprache, in dem man das Subjekt weglassen kann. Kein Linguist käme auf diese Idee; sie entspricht aber den tatsächlichen Verhältnissen, und dies schlägt sich in dem Input, den das Kind verarbeiten muss, nieder.
Dieses Heft befasst sich mit einer Spracherwerbssituation, in der – anders als beispielsweise bei einem Gespräch am Frühstückstisch – der Input in seiner doppelten Form gut zu überschauen ist, ohne dass die Situation, wie etwa bei einem kontrollierten Experiment, unnatürlich und der normalen Lernumgebung ferne wäre: mit dem Anschauen, Vorlesen und Lesen von Kinderbüchern. Man kann sich eine solche Situation als eine natürliche Ausweitung dessen vorstellen, was Augustinus beschreibt: Die Kinder hören, was die Erwachsenen sagen, und ihre Aufmerksamkeit wird auf bestimmte Dinge gerichtet, während sie hören und schauen – nur geht es hier nicht um einzelne Wörter, sondern um komplexe Ausdrücke und um komplexe, aber dennoch überschaubare begleitende Informationen. Nun haben Kinderbücher in der Spracherwerbsforschung durchaus eine Rolle gespielt. Dabei dienen sie – sei es als reine Folge von Bildern, sei es mit Text oder gar nur als Text – aber meistens nur als eine Art Vorlage für die Sprachproduktion der Kinder: Sie sollen aus der Vorlage eine Geschichte ableiten und in ihren eigenen Worten erzählen. Das bekannteste, aber keineswegs das einzige Beispiel sind die von Michael Bamberg, Ruth Berman und Dan Slobin in den 1980er Jahren initiierten „frog stories” – Nacherzählungen einer einfachen Bildgeschichte, die inzwischen in zahlreichen Sprachen vorliegen und viele Aufschlüsse über die unterschiedlichsten Aspekte der sich entwickelnden Sprachbeherrschung, von der Flexionsmorphologie bis zur Textstruktur, gebracht haben. Das ist gut und sinnvoll; aber im Grunde müsste man einen Schritt weiter gehen, nämlich gleichsam wir durch ein Mikroskop zu schauen, wie sich die Kinder ihre Regularitäten aus der Interaktion ableiten. Dies würde unsere Vorstellungen über den Verlauf des Spracherwerbs und die Gesetzlichkeiten, nach denen er erfolgt, wesentlich bereichern, vielleicht auf eine ganz neue Basis stellen.
Die Beiträge dieses Heftes geben dafür eine Reihe von Beispielen, von denen nur ein kleines, aber besonders schlagendes erwähnt werden soll. Es gibt zahlreiche, auf Bildgeschichten beruhende Analysen, in denen untersucht wird, wie Kinder eine bestimmte Person oder eine Sache im fortlaufenden Diskurs benennen – ob sie etwa definite und indefinite Nominalausdrücke (ein Junge – der Junge), lexikalische oder pronominale Nominalphrasen (der Junge – er) oder gar leere Elemente (der Junge wacht auf und 0 schaut nach seinem Hund) richtig verwenden können. Das Bild, das die Forschung in diesem wesentlichen Teil der Sprachbeherrschung heute bietet, ist alles andere als einheitlich. So umfassen die Ansichten darüber, wann die Definit-Indefinit-Unterscheidung gemeistert wird, den größten Teil der Kindheit, je nachdem, welche Untersuchungen man zu Rate zieht. In dem Aufsatz von Katrin Dammann-Thedens wird deutlich, dass Kindern in einem bestimmen Alter oft überhaupt nicht klar ist, dass eine bestimmte Person, eine bestimmte Sache auf fortlaufenden Bildern dieselbe ist – auch wenn sie ähnlich aussieht –, und das ist bei Licht besehen ja auch keine triviale Frage. Diese Beobachtungen werfen ein ganz neues Licht auf die Idee der referentiellen Kontinuität im Diskurs und ihren Ausdruck durch nominale Ausdrücke wie die eben genannten. Vielleicht haben wir ganz falsche Vorstellungen darüber, wie Kinder die begleitende Information – hier durch die Bilder einer Geschichte geliefert – verstehen und damit für den Spracherwerb verarbeiten.
Derlei Beobachtungen sind zunächst einmal etwas Punktuelles, keine Antworten, sondern Hinweise auf Dinge, die man bedenken muss. Aber ihre Analyse, und allgemeiner, ein genauerer Blick auf das, was sich tatsächlich abspielt, wenn Kinder sich Kinderbücher anschauen, mag uns vielleicht zu einem wesentlich tieferen Verständnis dessen führen, was beim Erwerb einer Sprache tatsächlich geschieht.
Publication type
Journal articlePublication date
2011
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